Ziemlich schräg: Schiefe Häuser in der modernen Architektur

19. Dezember 2018

Der schiefe Turm von Pisa wählte sein Schicksal nicht freiwillig: Durch den lehmigen Untergrund neigte sich die bekannte Sehenswürdigkeit bereits wenige Jahre nach Baubeginn aus der Achse. Um ganze vier Grad. Darüber können die Architekten des „Capital Gate“ in Abu Dhabi nur lachen. Das derzeit schrägste Gebäude der Welt hat eine Neigung von 18 Grad – eine ingenieurtechnische Meisterleistung. In diesem Beitrag erfahren Sie mehr über dieses beeindruckende Projekt sowie über weitere schief konzipierte Türme in Madrid und Hamburg.


„Puerta de Europa“ in Madrid

© Wikimedia Commons / Tiia Monto [CC BY-SA 3.0]; „Puerta de Europa“ in Madrid

 

Inspiration: Die weltersten geneigten Wolkenkratzer

Die Architekten Philip Johnson und John Burgee aus New York errichteten 1989 bis 1996 nicht nur ein schiefes Hochhaus, sondern gleich zwei: die KIO-Türme in Madrid. Die spiegelverkehrt zueinander gebauten Türme gelten als die weltersten geneigten Wolkenkratzer und inspirierten seitdem zahlreiche weitere Projekte. Sie sind 114 Meter hoch und neigen sich um 14,3 Grad über den Boulevard Paseo de la Castellana.

 

„Puerta de Europa“

© Wikimedia Commons / Triplecaña  [CC BY-SA 4.0]; „Puerta de Europa“

 

Doch wie schafften es die verantwortlichen Bauingenieure, diese Gebäude zu stabilisieren? Leslie E. Robertson Associates entschieden sich für vier grundlegende Elemente:

  1. massive Gegengewichte aus Beton, die an der Außenseite jedes Turms in den Boden eingelassen wurden und über Stahlkabel mit der Turmspitze verbunden sind; Größe jeweils 60 Meter x 10 Meter x 10 Meter.
  2. verstärkter Gebäudekern mit Aufzugsschacht.
  3. diagonale Profilstahlstreben an der Fassade.
  4. horizontale und vertikale Streben, welche die seitlichen Kräfte ableiten.

Diese von außen sichtbare Konstruktion hatten die Architekten und Ingenieure bewusst gewählt. Sie machte die „Puerta de Europa“ zum unverkennbaren Blickfang der Madrider Skyline.

 

Meilenstein: Das Capital Gate in Abu Dhabi

Das 160 Meter hohe „Capital Gate“ in Abu Dhabi gilt als ein Meilenstein der Ingenieurskunst. Und das hat seinen Grund: Der schiefe Turm aus dem Jahr 2011 neigt sich um 18 Grad aus der Achse, das entspricht einem maximalen Überhang von 80 Metern. Das Hochhaus ist damit das schrägste Gebäude der Welt. Der Entwurf von RMJM Architects erinnert in manchen Punkten an die KIO-Türme in Madrid. Auch hier umgibt ein extrem starkes, rautenförmiges Gitternetz die Fassade, das sogenannte Diagrid. Die 7.000 Tonnen Stahl, die verarbeitet wurden, tragen das Gewicht der einzelnen Geschosse und fangen Neigungskräfte ab.

 

Diese moderne Freiformarchitektur ist in jeder Hinsicht einzigartig: Jede Glasscheibe hat ein anderes Format, jeder Raum verfügt über einen anderen Schnitt und kein Winkel entspricht dem nächsten. Für ein ausreichend stabiles Fundament des schiefen Gebäudes sorgen mehr als 490 verstärkte Stahlsäulen, die wie ein dichtes Netz 20 bis 30 Meter tief in den Boden getrieben wurden. Als drittes stabilisierendes Bauteil konzipierten die Ingenieure einen gekrümmten, vorgespannten inneren Kern. Mit seinen 15.000 Kubikmeter Beton und 10.000 Tonnen Stahl biegt er den Turm wieder ins Lot.

© Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=hJGnKwCVzwE

 

Geschickt geknickt: Die Tanzenden Türme in Hamburg

Seit 2012 stehen die Tanzenden Türme am östlichen Eingang der Hamburger Reeperbahn – zwischen moderner Innenstadt und historisch gewachsenem Kiez. Das preisgekrönte Projekt stammt aus der Feder von Stararchitekt Hadi Teherani, der damals noch im Namen des Architekturbüro BRT – Bothe, Richter, Teherani tätig war. Die beiden Gebäude von 75 und 85 Meter Höhe beeindrucken durch ihre geknickte Fassadenkonstruktion.

 

Tanzende Türme in Hamburg

© Wikimedia Commons / SKopp [CC BY 4.0]; Tanzende Türme in Hamburg

 

Das scheinbar tanzende Tango-Paar aus Glas und Stahl steht deshalb so stabil, weil sich von Etage zu Etage die deckungsgleichen Grundrisse verschieben. Der doppelgeschossige Blechrahmen überspielt die Schrägen. Zudem entsteht dadurch eine zweischalige Struktur der Außenhülle. Fassade, Fenstertechnik und Sonnenschutz durchlaufen 16 verschiedene Neigungssituationen über 24 Etagen hinweg. Der maximale Überhang liegt bei 3 Metern. Kein Wunder also, dass dieses schiefe Gebäude ebenfalls zu einem Wahrzeichen seiner Stadt geworden ist.

 

Tanzende Türme in Hamburg

© Flickr / Fred Romero [CC BY 2.0]; Tanzende Türme in Hamburg

Schiefe Architektur – bewusst gewählt

In diesen drei Projekten wählten die Architekten und Ingenieure bewusst eine schräge Architektur, etwa um ein Tor zwischen zwei Stadtgebieten zu errichten oder um die Grenzen des Machbaren auszutesten. Alle drei Bauprojekte sind durch ihre Konzeption als Solitäre bzw. Zwillingssolitäre stark identitätsstiftend für den Ort, an dem sie stehen. Die Blob-Architektur mit ihrer futuristischen Formensprache bietet weitere solcher Beispiele.


 

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