Brutalismus: Revival einer rohen Schönheit

17. Juli 2017

Sie werden geliebt und sie sind verhasst: Die brutalistischen Bauten der 1960er und 1970er Jahre. Mal erklärt man ihnen den Krieg. Mal stellt man sie unter Denkmalschutz. Mal reißt man sie ab. Nun hat die junge, hippe Netzgemeinde den aktuellen Zeitgeist im Brutalismus wiederentdeckt. Die wahrhafte Nutzung von Form und Materialien und der rohe Beton haben etwas Ursprüngliches, Naturgemäßes. Gleichzeitig sind sie radikal. Dazu kommt das futuristische Design der Gebäude. Eine Kombi, die reizt – in viele Richtungen. Wir stellen Ihnen die Architekturströmung vor.

 Die Geisel Library

© Flickr // O Palsson; https://flic.kr/p/mC5wvE (CC BY 2.0); Die Geisel Library

 

Roh, nicht brutal

Eigentlich müsste es „Brutismus“ heißen, was mit dem Begriff „brutal“, wie wir ihn kennen, nichts zu tun hat. „Brutalismus“ leitet sich vom französischen „béton brut“, „Sichtbeton“ ab. Le Corbusier, Mitbegründer der Architektur der Moderne, prägte den Begriff, als er die ästhetische Faszination von rohem Beton als Finishing für seine Bauten entdeckte. Le Corbusier erhielt auf grobgegossenen Wänden die Unperfektheiten durch Abdrücke der Holzverschalungen, ohne sie verputzen oder wegschleifen zu lassen. 1947 setzte Le Corbusier in Marseille die erste seiner „Unité d’Habitation“, seiner Mega-Wohnklötze, entsprechend um und verhalf dem Brutalismus zu Ruhm und Namen.

 

Zwar nicht brutal, aber dafür komplex: Wenn Architektur und Identität aufeinander treffen.

 

Brutalismus – Radikal und wahrhaftig

Brutalismus ist ehrlich, denn er baut auf eine Ästhetik der Wahrhaftigkeit: Alles ist, was es ist und nichts wird beschönigt. Der stilbildende Baustoff des Brutalismus ist Beton. Aber auch andere Materialien wie Ziegel, Metall und Stein finden Verwendung. Der Architekturkritiker Reyner Banham definierte 1955 in einem wegweisenden Aufsatz drei Kriterien für den radikalen Baustil:

  • Form follows function: Der Grundriss ist immer transparent und der Bestimmung des Gebäudes entsprechend geplant.
  • Konstruktionen müssen „ablesbar“ sein: Träger, Balken, Leitungen, Installationen – alles muss sichtbar bleiben, nichts darf hinter Putz verschwinden.
  • Baustoffe werden roh und unbearbeitet verwendet: Es wird nicht verkleidet, vergipst, verschönt.

Nakagin Capsule Tower Building

© Flickr // scarletgreen; https://flic.kr/p/3nkCUN (CC BY 2.0); Nakagin Capsule Tower Building

 

Blütezeit für Bunkerbauten

Der erste brutalistische Bau war die Smithdon High School im britischen Hunstanton Anfang der 1950er Jahre. Sein Hoch erlebte der Brutalismus zwischen 1955 und 1979. Betonriesen entstanden in deutschen Großstädten, auf nordamerikanischen Universitätscampussen, in den Verwaltungsbezirken und Bankenvierteln Lateinamerikas, in Japan, Frankreich und der ehemaligen Sowjetunion: Gigantische Wohnbunker wie Moschee Safdies Habitat 67 in Montreal und das surrealistische Wabengebilde des Nakagin Capsule Tower in Tokio. Einschüchternde Multiplexe wie das Ihme-Zentrum in Hannover Linden-Mitte und der pilzartige Torre Velasca in Mailand.

 Torre Valesca

© Flickr // David Orban; https://flic.kr/p/4V8RQG (CC BY 2.0); Torre Valesca

 

Weitere typische Beispiele sind touristische Festungen wie die Hotelanlage Porto Carras auf der griechischen Halbinsel Chalkidiki, geplant von Bauhaus-Star Walter Gropius. Martialisch anmutende Lesesäle wie die Robarts Library in Toronto und die Geisel Library im kalifornischen San Diego. Klotzige Kulturstätten wie das Royal National Theater in London und das Badische Staatstheater in Karlsruhe. Oder kantige Gotteshäuser wie die Wotrubakirche in Wien und der Nevigeser Wallfahrtsdom in Velbert von Gottfried Böhm. Dies ist nur eine kleine Auswahl raumgreifender Beispiele einer Architektur, die von Anfang an polarisierte – und es noch heute tut.

 

SOS Brutalismus

An den Betonbau-Relikten des letzten Jahrhunderts scheiden sich, wie erwähnt, die Geister. Der britische Thronfolger Prince Charles erklärte ihnen mehrfach den Krieg. Eine Initiative des Deutschen Architekturmuseums (DAM) in Frankfurt und der Wüstenrot Stiftung hat hingegen ein internationales Artenschutzprojekt zur Rettung der Riesen ins Leben gerufen. Rund 800 Bauten lassen sich heute dem Brutalismus zuordnen oder gelten als dessen Vorläufer. Auf einer „roten Liste“ können engagierte Architekturschützer verfolgen, welche Exemplare aktuell vom Abriss bedroht sind – und per Hashtag #SOSBrutalism Einspruch einlegen.

 

Brutalismus trifft auch heute den Zeitgeist. Bauhausstil und die Architektur der Moderne in ihrer rohen Schönheit sind seit einiger Zeit wieder beliebte Fotomotive in den sozialen Netzwerken. Zudem erlebt dank neuer Werkstoffe wie Carbonbeton auch der Betonbau zurzeit ein Revival. Zu diesen Themen halten wir Sie im Allplan-Blog regelmäßig auf dem Laufenden.

 


 

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